Vom Recht, das Richtige zu tun
Die Flucht kennt, gestern wie heute, keine Legalität. Der Weg ins Exil wurde immer erkämpft, der Bürokratie abgerungen und erforderte nicht selten eine List.Über „Schlepperei“ oder: Warum die Republik selbst zum Fluchthelfer werden sollte.
Von Thomas Wallerberger (Die Presse)
Zwischen März 1938 und der Schließung der „Reichsgrenzen“ im November 1941 flüchteten mindestens 130.000 Österreicher in ein meist lebenslanges Exil. Diese Flucht gelang zu Fuß über die französische Grenze, wurde mit Skiern in die Schweiz versucht, mit gefälschten Visa nach Ungarn, legalen und illegalen Transporten nach Palästina, unter Vortäuschung einer pflegerischen Ausbildung nach England, mit Fischerbooten nach Schweden, mit allen Mitteln nach Brasilien, in die USA, die Sowjetunion, nach Schanghai, Kolumbien, Australien, Neuseeland.
Menschen überlebten durch arrangierte Ehen, durch Bestechung von Beamten oder als U-Boote in Verstecken. Im französischen Exil verschaffte sich der Schriftsteller Albert Drach ein Rechtsgutachten, welches ihm bescheinigte, dass das Kürzel I.K.G. auf seinem Wiener Heimatschein „im katholischen Glauben“ und nicht „Israelitische Kultusgemeinde“ bedeute. Es war also oft Strafbares – „Schlepperei“, „Bestechung“, „Korruption“, „Scheinehe“, „Dokumentenfälschung“ –, was NS-Verfolgten mit Glück und der Gunst des Zufalls das Leben rettete.
Zur Rolle von Behörden bei der Flucht lässt Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ den Wiener Physiker Ziffel im Schweden der Kriegsjahre lakonisch festhalten: „Mit etwas Bestechung können Sie sogar gelegentlich Gerechtigkeit erlangen. Damit ich in Österreich auf dem Passamt an der Reih drangekommen bin, hab ich ein Trinkgeld gegeben. Ich hab einem Beamten am Gesicht angesehen, dass er gütig war und was genommen hat.“
Die Flucht kennt, gestern wie heute, keine Legalität, zumindest nicht im Sinne einer positivistischen Auslegung des Rechts. Der Weg ins Exil wurde immer erkämpft, der Bürokratie abgerungen, war mit langem Warten und Bangen verbunden und erforderte nicht selten eine List. Der Verfasser der „Reinen Rechtslehre“, Hans Kelsen, einer der wichtigsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, geboren im Prag der k.-u.-k.-Zeit und Architekt der in großen Teilen heute noch geltenden Verfassung von 1920, versuchte ein abgeschlossenes Wissenschaftssystem des Rechts zu konstruieren. Das Gesetz, frei von moralischen und soziologischen Begründungen, sollte auf Basis von Rechtsnormen in sich selbst begründet sein. Das Problem dieser Konzeption war: Das System Recht funktionierte in sich, schloss aber Kelsen selbst aus. Er verlor seinen Lehrstuhl in Deutschland 1933, die österreichische Staatsbürgerschaft und seine Anstellung in Prag – auf Druck der Nationalsozialisten. Angesichts solcher Bedrohtheit des eigenen Lebens und des Ausgeschlossenseins aus dem Gemeinwesen stellt sich die Frage nach einem Recht auf Widerstand. Und zwar nach einem, das nicht erst im Rückblick von anderen Generationen anerkannt wird, im Sinne einer verspäteten Rehabilitierung im Nachhinein, sondern nach einem, das gegenwärtig gültig ist.
Wenn im Rechtssystem die Aussage „Niemand darf das Gesetz ungestraft brechen“ die moralische Norm „Niemand soll das Gesetz brechen“ gleichzeitig voraussetzt und fordert, dann gilt mit der Aussage „Niemand darf gefoltert und ermordet werden“ die moralische Norm „Niemand soll gefoltert und ermordet werden“. Diese beiden „Sollen“ können jedoch in einen Widerspruch treten, der Abwägung verlangt und politisches Handeln herausfordert. Als anständiger Staatsbürger dient man der Demokratie nicht durch blinden Gehorsam gegenüber den Instanzen, sondern vor allem mit moralischem Handeln und politischer Teilnahme. Die Notwendigkeiten von Flucht in der Öffentlichkeit zu verhandeln, von „Schlepperei“ bis „Dokumentenfälschung“, stellt daher keinen Aufruf zum Rechtsbruch dar, sondern einen Appell zur Einhaltung einer moralischen Norm, die als wichtig bewertet wird. Dabei geht es nicht um den Bruch der bestehenden Ordnung, sondern um deren Erweiterung. Immer wieder kommen Aktivisten, kürzlich der Obmann von „Asyl in Not“, Michael Genner, deshalb mit der Judikative in Konflikt, und immer wieder kommt der Rechtsstaat bei diesen Fragen zu Recht ins Trudeln.
Unmittelbar an Leib und Leben bedroht, spielen die Gründe der Bedrohung eine untergeordnete Rolle. Für die betroffene Person werden sie später wieder bedeutsam. Ob aus Angst vor einem totalitären Faschismus oder vor al-Qaida-Milizen in Nordsyrien, es wird versucht das eigene Leben zu retten, und zwar mit allen Mitteln. In der Diskussion um „Schlepper“, „Menschenschmuggler“ und „Scheinehen“ gibt es sodann zwei sich anscheinend nicht beeinflussende Sachverhalte. Einerseits besteht kein Zweifel daran, dass ohne entsprechende Fluchthilfenetzwerke und Routen die allermeisten Asylwerber Krisengebiete niemals verlassen könnten, andererseits besteht kaum eine Möglichkeit der nicht illegalen Einreise in ein westeuropäisches Land. Alfred Polgar, selbst von den Nazis verfolgt und in Prag und den USA im Exil, drückte es im September 1938 so aus: „Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: Wenn er sich nur nicht an unser Ufer rettet.“
Das ist übertragbar auf die asymmetrischen aktuellen Wahrnehmungsphänomene von Krieg und Krise. Die Anforderungen an die Formen von Hilfe werden nicht nur nicht erfasst, sondern selbst die nackte Notwendigkeit von „Hilfe“ tritt den Konsumenten von Kriegsberichten und -bildern nicht ins Bewusstsein. Diese seltsame Bewusstseinsgeografie der humanitären Krise ist eine Distinktionsleistung höchsten Grades: Innerhalb der Staatsgrenzen gilt unhinterfragt die restriktive Herrschaft des Rechtsstaates, außerhalbbegegnet uns Anteilnahme und Betroffenheit. EinKriegsereignis scheint die österreichische Politik und Bevölkerung in ein Dilemma zwischen Gesetzestreue und Betroffenheit zu stürzen, verloren geht darüber jeder Impuls zu handeln.
Alfred Polgar publizierte die oben zitierten Zeilen im „Prager Tagblatt“, ein halbes Jahr nach der Annexion Österreichs durch Hitlertruppen und zwei Monate nach der internationalen Flüchtlingskonferenz von Evian am Genfer See im Juli 1938. An dieser nahmen, auf Initiative des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, 32 Staaten teil, um die Hilfe für Menschen, die vom NS-Regime als Juden verfolgt wurden, zu regeln. Doch die objektive Anerkennung der bedrückenden Situation Hunderttausender führte nicht zu staatlichen Maßnahmen. Die Grenzen wurden dicht gehalten, bis sie entweder von Hitlers Wehrmacht überschritten wurden oder es für die Flucht ohnehin viel zu spät war. Die Staaten sahen besorgt zu und hofften, dass sich die Flüchtlinge „nur nicht an unser Ufer“ retteten.
Humanitäre und lebensbedrohende Krisen stellen sich heute anders dar, sie existieren nicht mehr innerhalb des Territoriums des „Westens“, sondern an vielen Orten jenseits seiner Außengrenzen und in vielen Formen, als Bürgerkriege, Hungerkatastrophen, Familienfehden, Clan- und Religionskriege, ethnische und konfessionelle Verfolgungen. Nicht verändert hat sich, dass es damals wie heute der moderne Nationalstaat ist, der die Möglichkeit hätte, diesen Bedrohungen wirksam entgegenzutreten und den betroffenen Menschen bei ihrer Flucht zu helfen und unterstützend beizustehen.
Legaler Aufenthalt und staatlicher Schutz sind die wichtigsten Anliegen von Menschen, die aus sich auflösenden und sie bedrohenden Staatenverbänden flüchten. Gerade deshalb muss konkretes staatliches Handeln im Zentrum jeder Diskussion über Flucht und Asyl stehen und – auch strategisch – das offizielle „Nein“ zur moralischen Frage nach Hilfe demaskiert werden. Im Falle des syrischen Bürgerkrieges könnte die Republik ihre Kontingente erhöhen, Aufnahmekriterien vereinfachen und in den Flüchtlingslagern in der Türkei und Jordanien aktiv werden. In der Schweiz werden für Syrer Asylverfahren eröffnet, dann aber verzögert. Davon Betroffene könnten in Österreich zu Verfahren zugelassen werden. Es würde ihnen die Hoffnung geben, irgendwann auch ihre Familien aus dem Kriegsgebiet retten zu können. Bisher wird aber nicht einmal das vom Innenministerium festgelegte Kontingent ausgefüllt. Während 380 österreichische Soldaten innerhalb kurzer Zeit von den Golanhöhen zwischen Israel und Syrien abgezogen werden konnten, ist es seit Monaten nicht möglich, auch nur der gleichen, geringen Anzahl an Bürgerkriegsflüchtlingen in Österreich Schutz zu bieten.
Regierungshandeln ist in der Flüchtlingspolitik momentan gleichzusetzen mit Abwehrhandlung. Keineswegs war dies immer der Fall. Der „Fluchthelfer“ Rudolf Kirchschläger vergab während der Niederschlagung des Prager Frühlings, gegen die Weisungdes damaligen Außenministers Kurt Waldheim, Visa an Dissidenten. Beide sollten später das Amt des Bundespräsidenten bekleiden. Bei der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 überquerten, unter Duldung der österreichischen Behörden, 200.000 Ungarn die österreichisch-ungarische Grenze. Das Flüchtlingslager Traiskirchen wurde zu einem Aushängeschild aktiver Neutralitätspolitik, der spärliche Nachkriegswohlstand, selbst bei dieser großen Zahl, nicht als bedroht angesehen. 1973 wurden, nach dem Militärputsch in Chile, Tausende Anhänger der gestürzten Allende-Regierung aufgenommen, nach der islamischen Revolution 1979 im Iran kamen weitere politische Flüchtlinge.
Doch in der jüngeren Vergangenheit scheint sich etwas grundsätzlich verändert zu haben. Die Kulturthese des bedrohten Abendlandes bringt europäische Regierungen dazu, sich hinter dessen vermeintlichen Grenzen zu verschanzen, so perfide es auch sein mag, sich nach dem Angriff auf das europäische Judentum durch den Nationalsozialismus noch auf eine abendländische Gesamtkultur und -tradition zu beziehen. Flüchtlinge werden mittlerweile vorzugsweise geordert und nicht nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention aufgenommen. So vermeinte etwa ein österreichischer Außenminister und Vizekanzler vor einigen Monaten, „Kinder, Frauen und Christen“ aus Syrien seien aufzunehmen, 500 maximal. Als politisch aktiver Kurde aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet gehört mandamit einer anderen Welt an, die ihre Probleme selbst zu lösen hat. Politische Fluchtgründe bekommen in den vergangenen Jahren beinahe etwas Ehrenrühriges. In einem protektionistischen Europa, dem vom neoliberalen Paradigma seine dünne politisch-moralische Haut abgezogen wurde, herrscht die Angst.
Dabei ist das Überleben durch Flucht „nur“ die erste von vielen Aufgaben. Die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge beispielsweise sind meist schwerst traumatisiert, durchwachen die schmerzhaften, frühen Morgenstunden, haben Gesundheitsprobleme, Sprachprobleme und vor allem fehlende Perspektiven in Bildung und Beruf. Es gibt keine finanzierten Therapieplätze bei gleichzeitig langwierigen und belastenden Asylverfahren. Danach wartet ein nach innen starres und nach außen exkludierendes Bildungs- und Erwerbsarbeitssystem. Hinzu kommt die Unsicherheit über den Verbleib von Eltern, Geschwistern, Freunden.
Das österreichische Exil, von 1938 bis 1945 und darüber hinaus, kannte all diese Probleme. In einem postfaschistischen Staat, versehrt durch seine noch nicht vergangene Vergangenheit, sollten die moralischen Ansprüche an den Staatsbürger diejenigen des Rechtsstaates immer übertreffen. Es gibt eine Verantwortung zum Handeln, die Republik Österreich sollte „Schlepper“ nicht vor Gericht stellen, sondern selbst zum Fluchthelfer werden. ■
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 12.04.2014)